50+ Leben

Wie ging noch mal dieses Loslassen?

16. Juni 2016
Blütenblätter einer Pfingstrose liegen auf einem Holztisch, darunter ein bunter Läufer

Schon immer haben mich in der Literatur oder im Film Figuren fasziniert, die mir-nichts-Dir-nichts ihrem alten Leben entschlüpfen und an anderer Stelle ein neues beginnen. Ich denke da zum Beispiel an George Simenons Roman „Der Mann, der den Zügen nachsah“, dessen Protagonist Kees Popinga eines Tages seinem bürgerlichen Leben in Groningen den Rücken kehrt und nach einem Umweg über Amsterdam in Paris in einen Strudel nicht mehr kontrollierbarer krimineller Machenschaften gerät. Oder an den Film „Die flambierte Frau“ mit Gudrun Landgrebe (1983). Gut, ich habe nie den Drang verspürt, mein geordnetes Dasein zu verlassen und Prostituierte zu werden. Aber allein dieses Gefühl, die Dinge noch einmal neu ordnen zu können, hatte für mich immer etwas Reizvolles.

Dass dazu der Reiz des Neuen überwiegen und ein gehöriges Maß an Loslassen können vorhanden sein muss, erklärt sich bei so radikalen Rollenwechseln wohl von selbst. Aber wie kriegt man das hin? Denn es gibt sie, die inneren Stimmen, die einem zurufen: Mach das bloß nicht! Du wirst es noch bereuen.

Das Leben kennt den Weg

Im Laufe der vergangenen zehn Jahre habe ich das Loslassen gelernt. Nicht freiwillig, es war kein Prozess, den ich begeistert angetreten habe. In der Rückschau würde ich vielmehr sagen, dass Leben hat sich meiner angenommen und mir immer wieder Gelegenheiten geboten, um zu üben, wovor ich so viel Angst hatte. So gab es gleich haufenweise Lebensumstände, in denen ich mich letzen Endes zu neuen Bewertungen entschieden habe. Einfach, um auf eine positive, weniger energieverbrauchende Art mit ihnen umzugehen. Ich habe Partnerschaften verloren, materielle Gegenstände, mein Aktiendepot, gewohnte Lebenssumstände, Freunde, meinen Hund und immer wieder Arbeitsstellen. In manchen Fällen war ich erleichtert, in anderen habe ich etwas länger gebraucht, um mir zu sagen: Da ist schon wieder eine Chance. Ich meine damit nicht den Verlust von geliebten Menschen oder Haustieren. Der erfordert vielmehr den Mut zur Trauer. Das ist ein anderes Thema.

In allen anderen Fällen hat Loslassen – das sehe ich im Nachhinein – immer wieder Platz geschaffen für etwas Neues. Für neue, bereichernde persönliche, zwischenmenschliche und berufliche Erfahrungen. Für Freiheiten, die ich mir früher auf keinen Fall genommen hätte. Auf einmal wurden sie quasi zur Notwendigkeit, die mir die neuen Lebensumständen nahelegten. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Ich bin, was die Selbstfindung angeht, eine ultralangsame Langstreckenläuferin, das kann man nicht anders sagen. Aber ich nähere mich dem Ziel.

Die Freiheit loszulassen

Seit einiger Zeit beschäftigt mich das Thema „Loslassen“ wieder intensiv. Wie befreit man sich eigentlich von einem sehr intensiven Wunsch, von dem man aber weiß, dass er unerreichbar ist? Ich habe mich vor etwa zwei Jahren ohne mit der Wimper zu zucken von fast meinem gesamten Hausstand getrennt. Ich kann mich ohne Probleme von Klamotten trennen, die ich nicht trage. Bücher bringe ich sofort ins Antiquariat, wenn sie nicht das Potenzial zum zweiten Lesen haben. Auch freundschaftliche Beziehungen, die mir nicht mehr guttaten, habe ich gehen lassen.

Wie ging das noch mal? Wie verabschiedet man sich mit Grandezza? Ich denke, das Wichtigste beim Loslassen ist eine innere Gelassenheit und Sicherheit. Das Gefühl, auch ohne diese Sache oder diesen Umstand genauso gut weiterleben zu können wie zuvor. Bis zu meinem 40ten Lebensjahr klebte ich geradezu an bestimmten Lebensvorstellungen. Auf keinen Fall war ich bereit, auch nur ein Jota von diesen Überzeugungen abzuweichen. Aber was stand eigentlich hinter meinen Ängsten? Heute stelle ich fest, dass es ganz bestimmt nicht meine eigenen Vorstellungen und Werte waren. Anerzogen, unreflektiert übernommen oder aus irgendwelchen anderen dummen Gründen zu den eigenen Zielen erklärt. Wie gesagt, glücklicherweise kam bei mir das Leben dazwischen und schickte mich auf den Loslassen-Trimm-Pfad.

Weniger Listen, mehr Genuss

Und ich habe entdeckt: Loslassen hinterlässt ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit. Erstens, weil man in der guten Überzeugung lebt, keine Angst wegen möglicher Konsequenzen haben zu müssen, sondern im Gegenteil vollkommen frei und unabhängig zu sein, und zweitens, weil man sich um eine Sache weniger kümmern muss. In der hektischen und turbulenten Zeit, in der wir leben, ein echter Zugewinn. Dass ich nicht bereit bin, eine Idee einfach so gehen zu lassen, merke ich übrigens an einer schlagartig einsetzenden inneren Verkrampfung. Dann kümmere ich mich nicht mehr um die Dinge, die mir Spaß machen. Bücher oder Zeitung lesen, stricken, meinen instagram-Account pflegen, fotografieren, meine Wohnung gestalten, schöne Geschenke für Freunde kaufen oder selber herstellen, mich um mein Blog kümmern – für all das fehlt mir in solchen Situationen die oben beschriebene Gelassenheit. Meine Gedanken kreisen nur um das eine Thema: Was passiert, wenn? Werde ich mich nicht fürchterlich schlecht dabei fühlen?

Ich hoffe und ich weiß es: Auch bei meinem derzeitigen Loslassen-Projekt wird die Lust an der Freiheit und der Unabhängigkeit irgendwann überwiegen. Wie befreiend wird es sich anfühlen, diesen Punkt von der verkrampften „Muss-ich-noch-einhundert-Mal-drüber-nachdenken-Liste“ zu streichen? Wie viel mehr Raum werde ich haben für die Dinge, die mir in meinem Leben wichtig sind und die mir Spaß machen? Langsam bekomme ich wieder Lust, den letzten beiden Fragen ein begeistertes „Das ich da nicht früher drauf gekommen bin.“ entgegenzuschleudern. Au ja, auf ins fette, pralle Leben, unlösbare Probleme loslassen – am besten sofort! Ich freue mich.

 

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